Im Kopf hat die Provinz nichts verloren
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Harald Darer
Risse und andere Gemeinsamkeiten (erschienen in: Literatur und Kritik, Salzburg, 2020)
Gute hundertzwanzig Autobahnkilometer trennen mich von meinem derzeitigen Wohnsitz in Wien und meiner sogenannten Heimatgemeinde, einem kleinen Ort im Mürztal in der Steiermark. Dazwischen liegt der Semmering, der nicht nur als Wetter- sondern als Mentalitätsscheide bekannt, beziehungsweise, verschrien ist (vermeintlich wildes Bergvolk undsoweiter). Gute Zwanzig Jahre meines Lebens verbrachte ich in diesem Heimatort, gute zwanzig Jahre in dem gut hundertzwanzig Autobahnkilometer entfernt gelegenen Wien. Hundertzwanzig Autobahnkilometer sind heutzutage keine Entfernung mehr. Nicht wenige Menschen pendeln täglich mehr als diese hundertzwanzig Kilometer aus den Bundesländern in die Bundeshauptstädte. Diese Menschen sind temporäre Einwohner der nicht ortsfesten Postleitzahllosen Pendlergemeinde. Heute wie vor zwanzig Jahren sind für die Pendlergemeinde die einzigen Verbindungen, die ihrer Meinung nach zwischen Stadt und Land herzustellen sind, die Bus-, Zug,- oder Autobahnverbindungen und beruhen somit auf rein beruflicher und geschäftlicher Basis. Zu tief seien die Wurzeln, die sie in ihren Herkunftsorten geschlagen haben, zu überlebenswichtig die sie seit Kindheit umgebende Landschaft, die sie einfriedenden Siedlungen und Nachbarn, deren Aussehen sich nur langsam verändern und diese vermeintliche Langsamkeit der Veränderungen als beruhigend und sicherheitseinflößend wahrgenommen wird. Heute wie damals macht sich in den Gesichtern der Leute ein Ausdruck von ungläubigem Entsetzen breit, wenn ich erzähle, dass ich völlig grundlos den Heimatsort in Richtung Wien verlassen habe, so wie sich in meinem Gesicht ungläubiges Entsetzen ausbreitet, wenn sie erzählen, dass sie immer noch in derselben Wohnung, in derselben Gasse oder im Zubau des Eigenheims der Eltern wohnen. Auf was konkret beruht dieses gegenseitige ungläubige Entsetzen in unseren Gesichtern, wenn nicht auf Voreingenommenheit, Vorurteilen und Klischees?, denke ich mir. Wo verklärt der eine das seine als ideal und blendet der andere das Katastrophale im seinen aus und umgekehrt? Hat uns die Entfernung von gut hundertzwanzig Autobahnkilometern empathisch insuffizient gemacht, oder sind wir durch die örtliche Trennung voneinander automatisch unterschiedlichen Stammesdünkel unterworfen worden, weil man ja selbst immer davon ausgeht, das von einem ausgewählte Lebenskonzept sei das bessere, das eigene Biotop das insgesamt gesündere? Das ist doch selbstverständlich! Aber warum diese fetischhafte Fixierung auf eine Örtlichkeit, in die man völlig zufällig hineingeboren worden ist? Ist die Angst vor Arbeitslosigkeit, wie sie Mitte der Neunzehnhundertneunziger Jahre in den Fabriken am Land allgegenwärtig war, von der Angst vor Heimatlosigkeit abgelöst worden? Wenn nun schon die Arbeit und die Identifikation mit der Arbeit verlustig gegangen ist, dann kann einem zumindest die Identifikation mit der Rax, dem Hochschwab und den Fischbacher Alpen keiner wegnehmen. Der Steirerhut, der Steireranzug und das Dirndl sind eingefleischt in den Landmenschenkörper. Und nicht nur mehr bei den Alten und Mittel-Alten sondern, zu meiner Überraschung, auch bei den Jungen. Hatten wir Jugendlichen in den Neunzigerjahren noch eine instinktive Abneigung gegenüber der Tracht und die altvaterischen, puritanischen und gleichzeitig scheinheiligen Werte die sie für uns transportierten, weil wir als Kinder von den Eltern in die Kindersteireranzüge, Walkjanker und Knickerbocker hineingezwungen worden waren, findet heute bei jedem Sautanz ein Trachtenauflauf der Jugend über alle Schichten und Milieus statt. Obwohl die Sautänze nicht mehr Sautänze sondern Wiesn heißen. Und die Trachten nicht mehr die abgetragenen Walkjanker und ein-, beziehungsweise, zweitönigen Arbeitsdirndl sind, sondern überteuerte, farbenfrohe Lifestyle-Fashion-Statements einer traditionsbewussten jungen Mittelschicht, die sich ihrer Wurzeln wieder vermehrt bewusstwird und dies auch stolz zur Schau trägt, wie es in den Werbeeinschaltungen der Regionalzeitungen geschrieben steht. Umgekehrt sehnen sich auch die Stadtmenschen nach dieser Hochglanztrachtenlackidylle, wo es keine Islamisierung, Ausländerghettos und die damit einhergehende Ausländerkriminalität gibt, wo auf den Straßen, den Geschäften und Schulen deutsch, beziehungsweise österreichisch und nicht serbokroatisch, türkisch, ungarisch und arabisch gesprochen wird (beim Servierkörper im Wirtshaus geht das gerade noch durch, man fördert schließlich die Integration in Hungerleiderjobs). Gute Hundertzwanzig Autobahnkilometer von der Stadt entfernt sind aber doch zu viel des Guten für den Freizeitangebot-verwöhnten Städter, weshalb das Ziel der stadtmenschlichen Eigenheimbegierde zumeist der sogenannte Speckgürtel der Stadt ist, und nicht die Einschicht hinter dem Semmering, wo die Einheimischen ohnehin hinter einem am Boden spucken, sobald man sich als Zugereister umgedreht hat. In den Speckgürteln kann man zumindest - in einer abgespeckten Art von Landleben - die grüne Landschaft und die gute Luft genießen, die Kinder aber gleichzeitig in die Stadt in die Schule und ins Theater schicken. Vorausgesetzt man wohnt nicht an den Pendlerstrecken, wo das allmorgendliche und allabendliche Verkehrsgemetzel an den Ampeln und Kreisverkehren die Nerven der Pendler aufreibt. Und damit der Stadt-Land-Gegensatz scheinbar völlig aufgehoben wird, findet auch in der Stadt auf jeder größeren Wiese eine Wiesn statt, auf die die Städter - in genauso bunten Trachtenkostümen wie ihre Brüder und Schwestern im Geiste vom Lande - aus ihren Bürokäfigen heraus hin- und in die Zelte hineinströmen um sich bei Bier und Schlagermusik der gemeinsamen österreichischen Werte zu besinnen -In einem christlichen Land hängt ein Kreuz an der Wand! Trotz wirtschaftlicher und somit sozialer Kalamitäten, erduldeter Miseren der Hinausgeschmissenen und der Zurückgebliebenen- beziehungsweise –gelassenen, schweißt der patridiotische Schlager als Transportmittel für Garantie von Wert und Sinn das Stadt- und das Landvolk zusammen. Gemeinsam gegen etwas oder jemanden zu sein ist schließlich einfacher als gemeinsam für etwas oder jemanden zu sein, ausgenommen das Besingen der Schönheit der Heimat und der Liebe, beziehungsweise das Besingen des Heimkommens in die Heimat und zur großen, einzigen Liebe, die gleichzeitig auch oft die Heimat ist. Fragt man die so mutmaßlich zusammengeschweißten schließlich aber, von wo sie herkommen, werden sie auf ihre jeweilige Bundeslandherkunft bestehen, denn wer will schon als Oberösterreicher, Niederösterreicher, Burgenländer oder Kärntner beschimpft werden, wenn er doch ein Steirer, Tiroler, Salzburger oder Vorarlberger ist und umgekehrt. Verstärkt wird dieser Bundesland- und Lokalpatriotismus nur noch dadurch, dass man in der Bundeshauptstadt Wien hauptgemeldet ist, und wenn die Trennung von der Herkunftsgegend auch nur hundertzwanzig Autobahnkilometer ausmacht. Vermutlich trennt die „Stadtmenschen“ von den „Landmenschen“ paradoxerweise in Wahrheit die Angst vor dem Gemeinsamen, verklären die einen ihre Lebensart und verteufeln die andere und umgekehrt, nur um einen Unterschied zu konstruieren, den es eigentlich gar nicht mehr gibt. Die Verallgemeinerung als Mutter der (Fremden-) Angst. Ein Unterschied muss schließlich sein! Und da ist der geographische wohl der unmittelbarste: Ein Bekannter verkauft sein neu gebautes und kürzlich fertig gestelltes Haus, um wieder zurück in sein fünf Kilometer entferntes Heimatdorf zu ziehen. Die fremde Gasse und die veränderten Buchstaben am Kennzeichen des Autos waren nicht zu verkraften, das Heimweh zu stark. Nicht mehr das Exotische, weit weg Liegende, Fremde lockt uns. Der Sehnsuchtsort liegt zu Hause und die Sehnsucht wird größer je weiter arbeitstechnisch in die Stadt ausgependelt wird. Werden muss. Die Welt ist schlecht, das lernen wir aus dem Fernsehen und dem Internet, darum wollen sie ja alle hierher. Daheim ist es gut und schön, hier ist selbst das Grauen zur Folklore geworden, die schöne Gegend hat das Finstere, über das damals wie heute nur hinter vorgehaltener Hand geredet wird, immer schon übertüncht. Über die regelmäßigen Selbstmorde berichtet mir die Mutter, damals wie heute, während sie mir die Leberknödelsuppe hinstellt und mit den einleitenden Worten: Hast du schön gehört? Na, sowas! Damals wie heute, sind die aufgestellten, blumengeschmückten Marterl schön anzuschauen und fügen sich in die romantische Landschaft, ohne Scharten und Blessuren zu hinterlassen, ein. Es hat, wie gesagt, etwas Beruhigendes, wenn sich Dinge kaum ändern. Meistens. Sitze ich im sommerlichen Garten der Eltern und schaue auf die von der Mutter -wie immer- liebevoll gepflegten Strauch- und Blumen-Ensembles, während der Vater -wie immer- den Kugelgrill anwirft und höre zwischen den Wortfetzen der –wie immer- im Hof fußballspielenden Kinder plötzlich das Wort Saujud heraus, und dann noch einmal den Satz: Das war ein Saujud!, was mich sofort wieder an die eigenen Fußballspiele in der Kindheit erinnert, obwohl ich sie schon längst vergessen gehabt habe, mitsamt dem Wort Saujud, womit ein Schuss mit dem Ball gemeint ist, der dilettantisch mit der Fußspitze getroffen und somit zufällig ins Tor geschossen wurde, dann kommt sofort wieder das Gefühl, dass es etwas Beunruhigendes hat, wenn sich Dinge kaum ändern und kommt sofort der Reflex wie damals, hier wegzuwollen, und zwar in die Stadt, wo ich außer dem direkten Nachbarn niemanden kenne, und wo ich mir zumindest leichter einbilden kann, das alles hinter mir gelassen zu haben.
Erwin Einzinger
Vom Erlebnisbauernhof zur Hardrockkneipe (2020, unveröffentlicht)
Zwei scharlachrote Hubschrauber über der Stadt – und
Hinter einem eingestaubten Fenster sieht man eine alte hand=
Bemalte Puppenküche, die jemand irgendwann am
Dachboden eines Erlebnisbauernhofs gefunden und dann einem
Ramschhändler verscherbelt hat. Im Persianermantel ihrer
Oma eilt die Wirtschaftswissenschaftsstudentin Laura
Zum Gemüsemarkt. Zeitmanagement. Börsendynamik. Zins=
Verfall. Ständig tun sich Randgebiete auf, die sich ver=
Zweigen und in irgendeinem Dickicht enden wie diverse
Falldarstellungen und das dazugehörige Geplapper.
Der junge Mario de Gaspari kommt frisch vom Müllsortierer=
Kurs und gönnt sich eine warme Mohnkrone. Seine
Halbschwester Lamberta arbeitet als Praktikantin im Turiner
Sanitärwarenkonzern und zeichnet in der Freizeit Comics.
Alle paar Wochen ändert sich jetzt der Bezugsrahmen
Für eine Welt, deren Konturen ineinanderfließen.
Ein Bergamasker Bio-Küchenguru legt sich halb im Spaß
Mit einer resoluten Fernsehköchin an, die sich
Sofort beleidigt fühlt und ihre Stacheln ausfährt.
Die Tochter eines überaus beliebten Krimiserienschreibers will
Laut Zeitungsinterview im Herbst mit ihrem Künstler=
Freund durch die Ägäis schippern, und die neue
Pächterin des Strickwarengeschäfts am Corso, eine sanfte
Frau mit einer Papua-Frisur, lehnt an der Leichtmetall=
Stehleiter und amüsiert sich sichtlich über eine Kundin, deren
Alltag sich angeblich weitgehend an Daten aus dem
Internationalen Rockkonzertkalender orientiert.
Irmgard Fuchs
Kleine Lastentiere (Auszug aus: Wir zerschneiden die Schwerkraft, Kremayr & Scheriau, Wien, 2015)
In meinem Kopf sage ich es mir vor: Ich liebe den Zirkus. Ich liebe den Zirkus, das Rattern des Stromgenerators und den Geruch nach Sägemehl. Ebenso wie die Zuckerwatte, die ich liebe, sofern sie weiß ist. Rosa geht auch, hellblau nicht. Dafür liebe ich aber den Blaustich der Energiesparlampen, die aufgeregt zu flackern beginnen, sobald der Zirkusdirektor spricht. „Der Zirkus ist nur so gut wie seine Zukunft“ ruft er ins Mikrofon und meint damit den Auftritt seiner achtjährigen Tochter, die kurz zuvor einen brennenden Hula-Hoop-Reifen um sich kreisen ließ. Gerade kann ich aber auch dafür Liebe aufbringen, nicht zuletzt, weil man aus Liebe alles besser erträgt. Und da, endlich, kündigt der Zirkusdirektor die einmaligen Künste der Seiltänzerin an, die sich allerdings als nicht mehr ganz schlanke, mittelalte Frau entpuppt. Ohne großen körperlichen Einsatz balanciert sie über ein viel zu niedrig gespanntes Seil und langweilt sich dabei recht offensichtlich.
Gegen das Tatsächliche behaupte ich umso vehementer meine unerschütterliche Liebe: zum Zirkus und vor allem zum Leben, das eben manchmal anders ist, als man es sich ausgedacht hat. Dabei hatte ich es mir bis ins kleinste Detail vorgestellt, wie die Seiltänzerin mit ihrem fragilen Körper hoch oben in der Zirkuskuppel am unsichtbaren Seil schwebt. Sogar die Füße der Artistin hatte ich vor mir gesehen, wie sie vorsichtig über das Seil gleiten, als könnten sie den Abgrund unter sich spüren. Genau auf der Hälfte der Strecke war in meiner Vorstellung schließlich alles ins Schwanken geraten und ich hatte mir ein fatales Unglück erwartet. Eines, das erst im allerletzten Moment abgewendet werden hätte können. Ganz insgeheim hatte ich vielleicht sogar auf einen Sturz gehofft.
Doch nichts passiert, das Publikum applaudiert, das blaue Licht tanzt dazu. Aus den kratzenden Lautsprechern, die die Zirkuskapelle ersetzen, ist ein Tusch zu hören, und die Seiltänzerin wird vom Clown abgelöst und ist gerettet. Breitbeinig steht er auf dem Boden, der voller Sägespäne ist, und macht unpassende Witze über seinen offensichtlich echten Alkoholismus, bevor er seine kleinen Assistenten ankündigt: vier kurzhaarige Shetlandponys mit Kopfschmuck, die in die Manege geführt werden. In diesem Augenblick stockt jedoch das Geräusch des Generators und es ist schlagartig finster.
Im Dunkeln lasse ich für einen Moment meine Vorsätze los: Ich liebe nichts. Stattdessen nütze ich die Gelegenheit und erlebe für mich allein, wie die Seiltänzerin hoch oben das Gleichgewicht verliert und ich erschrocken den Blick von ihr abwenden muss und ihn auf dich richte, sodass mir das tragische Ereignis nicht direkt, sondern durch dich widerfährt. Durch die Reaktion in deinem Gesicht, dessen Züge dir kurz entgleiten, sich jedoch sofort wieder ordnen, weil du mich zu beschützen versuchst. Deutlich spüre ich, wie du mich heftig an dich drückst und meine Augen mit deiner Hand bedeckst. Ich halte dieses Gefühl fest, weil die Vorstellung allein doch ausreichen muss. Sie würde es sicherlich auch, wäre da nicht diese Scham in mir, dass mein Verlangen nach dir als mein Sicherheitsnetz so groß ist, dass ich auf Tragödien hoffen muss, um es zu befriedigen. Und so kehre ich mit schlechtem Gewissen in die Wirklichkeit der verdunkelten Manege zurück.
Es ist doch erstaunlich, dass in so einer Situation niemand die Nerven verliert. Niemand rührt sich vom Fleck und auch die Ponys stehen still, während sich der Clown für den technischen Defekt entschuldigt. Er verpackt das Malheur in einen misslungenen Witz, wird aber zu seinem Glück von der kugeligen Frau, die vor der Vorstellung die Zuckerwatte auf die Stäbe geschleudert hat, unterbrochen, weil sie mit Taschenlampe und Hammer durch die Manege läuft und sich ächzend unter die Tribüne zwängt. Laut schlägt Metall auf Metall, die Frau flucht in einer fremden Sprache. Trotzdem ändert sich nichts.
Alle harren geduldig auf ihren Plätzen aus. Ich wundere mich, dass auch ich ganz ruhig bleibe, obwohl es mir schwer fällt, ohne Licht die Fassung zu bewahren. Vielleicht aber geht es allen so und sie reißen sich nur zusammen, um nicht die Spannung zu verlieren, den Zirkuszauber, den man sich hier ohnehin mühsam einreden muss. Oder aber niemand wagt es aufzustehen, denn es gibt keine dieser sonst allgegenwärtigen Notausgangsschilder, sodass auch ich die Orientierung vollends verloren habe und mir nicht mehr sicher bin, wo kurz zuvor eine Seiltänzerin, ein Mädchen mit Feuer-Hula-Hoop, und noch früher ein Taubenkarussell ihre Kunststücke dargeboten haben. Ich bin mir auf einmal nicht einmal mehr sicher, ob überhaupt irgendwann etwas da gewesen ist und sogar die Illusion, dass ich irgendwo tief in mir drinnen immer noch das Kind von früher bin, ist jetzt schwarz übermalt.
Die Zeit zerrt an der Dunkelheit und verwandelt sie langsam in ein Graublau, in dem die Shetlandponys zu erahnen sind. Deutlich nehme ich auch die zwei Köpfe der Nachbarskinder zwischen uns wahr, die du als unsere Attrappenkinder mitgebracht hast, weil es dir undenkbar schien, als erwachsenes Paar in den Zirkus zu gehen. Perplex hast du mir erzählt, dass die Kinder sich nur zu einem kostenlosen Zirkusbesuch überreden hätten lassen, nachdem du ihnen so viele Süßigkeiten versprochen hast, wie sie essen können. So sitzen dieser Junge und dieses Mädchen nun also zwischen uns und tasten blind nach ihren offenen Säckchen mit Gummizeug, gebrannten Mandeln und Popcorn. Nur die Zuckerwatten, die sie immer noch fest in der Hand halten, sind ihnen nicht verloren gegangen.
Ich muss lachen bei dem Gedanken daran, wie ungünstig es wäre, wenn die zwei Kinder den Stromausfall nützen würden, um zu fliehen. Du und ich, wir wären beide unfähig, die zwei wiederzufinden. Nicht einmal suchen könnten wir sie, geschweige denn rufen. Zumindest ich weiß nicht, wie sie heißen, und ich bin mir ziemlich sicher, dass du dich auch nicht dafür interessiert hast. Um mein Auflachen zu überspielen, frage ich so einfühlsam wie möglich, ob alles in Ordnung sei. „Bei euch zwei Großen“, füge ich mit Nachdruck hinzu. Statt einer Antwort höre ich, wie das Mädchen neben mir in ihre Zuckerwatte beißt. Ganz leise knistert es, während die Zuckerkristalle in ihrem Mund schmelzen. Sofort habe ich einen süßlich stechenden Geschmack auf der Zunge, ein fast schmerzhafter Reiz durchdringt meinen Kopf, der nicht ohne Zutun einzudämmen ist. Ich stupse das Mädchen an, frage, ob ich bei ihrer Zuckerwatte kosten dürfe und kann erkennen, wie sie den großen Zuckerbausch weit von mir weghält. Ich kann diese Art von Egoismus noch gar nicht richtig fassen, da atmet es heiß gegen meine Wange und die Stimme des Jungen flüstert: „Fürchten sich die kleinen Pferdchen nicht?“ Während ich noch überlege, ob die Sorge berechtigt ist oder ob Ponys im Dunkeln sehen können, antwortest du bereits: „Nein, nur Menschen brauchen künstliches Licht. Ponys ist das egal.“ (...)
Christian Futscher
ZU PLATT (aus: Schön und gut, Droschl, Graz, 2005)
Ein Ärschchen mit Öhrchen wird geboren in einem österreichischen Kaff weit draußen in der tiefen Provinz, in Glötsch.
Kaum kann er saufen, der Arsch mit Ohren, meint er: „Ein starker Arsch mit Ohren muss her!“ Denn was er so hört aus der Hauptstadt, das ist ihm gar nicht geheuer und auch zutiefst zuwider.
Der Name des Mannes ist Leopold Platt, Poldi genannt von seinen Freunden, von denen er gut ein Dutzend hat, nicht mitgezählt die Freundinnen, die nicht so zählen, weil es lauter Dreckenten sind, wie er gern sagt.
Dagegen Poldi und seine Freunde sind lauter stramme Burschen, die alle wissen, dass sie sie sind und wo der Bartl den Most holt.
In Glötsch ist immer etwas los: Unfälle, Schlägereien, Amokläufe, Selbstmorde, Prozessionen, Zeltfeste, Hochzeiten usw.
Die Dorfgemeinschaft ist intakt, wie gesagt wird, und wer nicht dazugehört, wird platt gemacht …
Genug zu Glötsch! Schon fast zuviel der Ehre für Platt und Co. Keine zehn Pferde bringen mich nach Glötsch hinein, schon bei der Durchreise sage ich dauernd: „Scheiße.“
DIE PROVINZ (aus: Ein gelungener Abend, Volk und Welt, Berlin, 1997 – vergriffen)
Kaum war Fridolin aus dem Hauseingang getreten, stellte sich ihm ein fremder Mann in den Weg und legte ihm freundschaftlich die Hand auf die Schulter. Der Mann war tipptopp gekleidet, roch intensiv nach Rasierwasser und sagte: „Kümmern Sie sich mehr um Ihre Frau!“
Fridolins Augenbrauen hoben sich, während der Mann fortfuhr: „Und weil wir gerade dabei sind – wann werden Sie endlich Ihren Rasen mähen?“
Fridolins Hals streckte sich. „Sobald ich Zeit dazu habe …“
„Sehr gut, ausgezeichnet, ich werde Sie beim Wort nehmen. Und vergessen Sie Ihre Frau nicht!“ Der Mann salutierte und ging im Eilschritt davon.
Fridolin schüttelte grinsend den Kopf. Er lebte erst seit kurzem in der Stadt, und zwar im dritten Stockwerk eines fünfstöckigen Hauses; außerdem war er, wie er in letzter Zeit gern behauptete, seit seiner Geburt schwul.
„Mäh“, machte er unwillkürlich, „mäh, mäh …“, worauf ihm ein Passant auf der anderen Straßenseite den Vogel zeigte.
„Geil!“, rief Fridolin, der nun nicht mehr daran zweifelte, dass es richtig gewesen war, seine langjährige Freundin in der Provinz zu verlassen und in die Hauptstadt zu ziehen.
Robert Kleindienst
Abgestreifte Tage (aus: Zeit der Häutung, edition laurin, Innsbruck, 2019)
Salzburg hatte sie nach ihrem Jahr in der Stille mit einem Getöse empfangen, das wie ein heftiges Gewitter über sie hereinbrach. Kurz nach ihrer Ankunft umfing sie ein Durcheinander von Motorgeräuschen der Busse, Lastwagen, Autos, Militärjeeps, Motorräder, das Quietschen und Kreischen der Straßenbahn, Klackern der Kutschen, Klingeln von Fahrradglocken, Stimmen umherirrender Menschen, Marktschreier, Schwarzhändler, Bettler. Das Schlagen und Läuten zahlloser Kirchenglocken lieferte sich einen unerbittlichen Wettkampf mit dem Lärm von Werkzeugen und schwerem Gerät, das zum Abtransport des Bauschutts der von Fliegerbomben skelettierten oder gänzlich vernichteten Gebäude verwendet wurde, die immer noch als Narben an zahlreichen Stellen der Stadt prangten.
Als Ana dem Zug entstieg, wurde sie schlagartig in eine Welt katapultiert, die augenscheinlich noch nicht lange den Klauen des Krieges entkommen war. Wo ein überdimensioniertes Schild mit der Aufschrift Räder müssen rollen für den Sieg längst in Trümmer zerfallen war, noch wenige Monate zuvor ein Trichterfeld mit Schienenstücken, Weichenteilen und zerstörten Waggons den Verkehr gänzlich zum Erliegen gebracht hatte, war zumindest alles wieder so weit instandgesetzt, dass Züge ein- und ausfahren konnten. Männer in schmutzigen Gewändern, die Gesichter fahl und grau, lungerten auf den Bahnsteigen herum, musterten Ankommende, blickten müde zu Boden. Sie waren Teil derer, die als Entwurzelte im Meer der Nachkriegszeit trieben, wie loses Treibgut an Bahnhöfen angeschwemmt wurden. Es waren Verwundete, Verstümmelte, ehemalige Kriegsgefangene, Rückwanderer, befreite KZ-Häftlinge, Displaced Persons, die dort, wo sie blieben, um sich auszurasten von ihrer Odyssee, oft nicht mehr waren als geduldete Fremde.
Am Ende des Bahnsteigs befand sich eine kleine Ansammlung von Frauen und Männern mit erwartungsvollen Mienen. Sie schienen die Einfahrt eines Zuges mit Heimkehrern abzuwarten, in der Hoffnung, bald ihre Angehörigen in die Arme schließen zu können oder zumindest ein Lebenszeichen von ihnen zu erhalten. Einige hatten ihre Kinder mitgebracht, die herumliefen, lachten, Ventile in der angespannten Stimmung.
Ihr Blick blieb an zwei abgemagerten Buben hängen, die sich an eine zierliche Frau klammerten. Mit ihren stark geröteten Augen und eingefallenen Wangenknochen wirkten sie dem Tod näher als dem Leben, Kinder der Zeit, in der jede Kalorie auf die Goldwaage gelegt wurde. In unaufhaltsamen Wellen strömten in diesem Hungerjahr Menschen in die Stadt, suchten in Abbruchhäusern, Kellerlöchern oder Baracken Unterschlupf, ließen Salzburg einer eroberten Burg gleichen, deren Vorräte längst zur Neige gegangen war. Die Einwohner hatten die Schuldigen für das Elend rasch ausgemacht. Flüchtlinge und Überlebende der Vernichtungslager wurden bei Zuteilungen von Lebensmitteln bevorzugt, man beklagte, die Fremden würden fettgefüttert, während die eigenen Kinder kläglich verhungerten.
Gabriele Kögl
HAUS BAUEN (aus: Mutterseele, Wallstein-Verlag, Göttingen, 2005)
Ich kann mich noch gut erinnern, als wir mit dem Bau des neuen Hauses begonnen haben, und die Nachbarn haben noch nicht einmal einen Plan gehabt. Die Nachbarin hat erzählt, dass sich ihr Mann jeden Tag betrunken hat, weil er seinen Neid nicht ausgehalten hat, den er darüber gehabt hat, dass wir bauen würden und sie nicht. Richtig rabiat soll er gewesen sein, und in der Nacht soll er auf unserem Rohbau herumgegangen sein und alles inspiziert haben, damit er es noch größer und noch besser machen könne als wir es gemacht haben. Wir haben gebaut und gebaut, und alles gemacht, was modern gewesen ist, und wir haben ein echtes steirisches Bauernhaus hingebaut, mit schmalen Giebeln und kleinen Balkonen und einem steilen Dach, auch wenn mir ein Bungalow besser gefallen hätte, aber mein Sohn wollte ein echtes steirisches Bauernhaus haben, so wie das alte eines war, von siebzehnhundertvierundvierzig, und es ist ganz schmuck geworden, aber zwei Jahre später hat der Nachbar zu bauen angefangen, und er hat uns ein Tiroler Haus vor die Nase gesetzt, mit riesigen geschnitzten Balkonen, dass sich die Balken gebogen haben, und mit doppelt so vielen Zimmern, wie wir sie haben. Aber in ihr Wohnzimmer lassen sie niemanden hinein, das mit hellem Holz getäfelt ist, und der Boden ist auch aus hellem Holz, und er wäre bald verschmutzt, wenn man hineingehen würde. Sie machen einem nur die Tür auf und lassen einen hineinschauen und selber schauen sie auch nur hinein. Eigentlich leben sie im Keller. Dort darf man mit den Schuhen hineingehen und für die Stallkleidung ist auch Platz. Sie haben einen Fernseher dort und einen Herd, und im Vorraum eine Dusche, und das ist praktisch, weil die schönen Räume nicht verschmutzt werden, wenn man im Keller lebt. Bei den Nachbarn ist alles wie neu, nur bei uns schaut es schäbig aus, von den vielen Besuchen, und von den Kindern, die überall hineindürfen. Aber du kannst zu den Jungen sagen, was du willst, die Kinder dürfen alles, und überall haben sie ihr Zeug herumliegen, nur in mein Zimmer dürfen sie nicht.
Ich habe meine Kinder auch nie in mein Schlafzimmer gelassen, und meinen Mann habe ich auch nicht hineingelassen, wenn er sich mit der Werktagskleidung hat hinlegen wollen, zu Mittag oder am Nachmittag. Dann, als die Schwiegermutter gestorben ist, habe ich ihn endlich ganz hinausbekommen aus meinem Zimmer.
Bei mir ist noch alles wie neu. Wenn ich den Kasten aufmache, liegen die neuen Handtücher noch genauso gefaltet, wie die Jungen sie mir geschenkt haben, und die neue Bettwäsche, original verpackt, und die viele neue Unterwäsche und die Kombinesch, die ich immer bekommen habe zu den Muttertagen, alles ist noch da, genauso wie die feinen Strümpfe, die ich schon beim Auspacken zerreißen würde mit meinen rauen Fingern. Meine Kinder haben mir immer schöne Sachen geschenkt, und das ist ein Problem, weil die schönen Dinge meistens nicht praktisch sind, und die praktischen sind meistens nicht schön, und darum habe ich mir das, was ich wirklich anziehe, erst immer selber kaufen müssen. Leider kann man das, was man im Kasten hat, nicht den Nachbarn zeigen, und die Nachbarin hat fast jeden Monat ein neues Kostüm an, und bei jeder Hochzeit und bei jeder Taufe ist sie neu, und ich gehe nicht mehr in die Kirche, wenn ich sie sonntags herauskommen sehe aus dem Haus, und sie hat schon wieder was Neues an, da bleibe ich lieber daheim, und ziehe mein Sonntagsgewand wieder aus, damit ich sie nicht sehen muss und damit ich nichts sagen muss dazu. Voriges Jahr haben sie ihr Haus neu angestrichen, komplett von oben bis unten, und ich habe zu unseren jungen Leuten gesagt, dass wir unser Haus auch neu streichen sollten, aber mein Herr Sohn hat gemeint, dass die Farbe noch schön wäre. Möglich, dass es nicht unbedingt notwendig wäre, aber jetzt ist das Nachbarhaus so groß in diesem Tiroler Stil, wenn man bei denen auf dem Balkon steht, kann man wie von einer Aussichtswarte über das ganze Dorf schauen, und seit sie das Haus auch noch frisch gestrichen haben, strahlt es wie ein Leuchtturm, und unser Haus daneben ist gar nicht mehr zu sehen.
Lukas Meschik
Fragmente einer Großstadt (unveröffentlichter Auszug, Prosa zu New York)
Das Flugzeug startet den Sinkflug und verliert merklich an Höhe. Der Bauch kommt nicht so recht hinterher, lässt das Gegessene wandern. Notfalls erfolgt ein rascher Griff zur braunen Papiertüte in der Sitztasche, gleich hinter der Bildergeschichte zu Druckverlust und Notwasserung. Der Bodenabstand schrumpft, die Größe der Bäume und Häuser dagegen nimmt stetig zu, in den Autobahnknoten sind bereits einzelne Verkehrsteilnehmer voneinander zu unterscheiden. Nicht mehr lange, dann beginnt der Landeanflug. Mit welchen Bildern und Stimmungen wird sie sich vorstellen, die unergründliche Stadt, wie wird sie einen empfangen? Bange Vorfreude aufs Ungewisse.
*
Es ist Liebe auf den ersten Fernwehblick. Der eingefangene Blitzstrahl lotst den Ostküstenanflug. Die Fackelflammenfrau wächst in stolzer Erstarrung mit wallenden Stoffen aus dem luftüberspannten, von Zwillingsstädten umrahmten Hafen. Von ihrer Leuchtfeuerhand glüht weltweites Willkommen, ihre milden Augen laden fordernd ein. Ich bin müde und arm, geknechteter Massenmensch, der frei zu atmen begehrt, bin elender Unrat unserer gedrängten Küsten, bin Heimatloser und vom Sturm Getriebener. Ich liebe dich zurück, sagt sie mit stummen Lippen. Ich gehe durchs goldene Tor, fliege auf sie zu und spendier ihr einen Bagel mit Cream Cheese und Räucherlachs. Sie lächelt. Bei richtiger Sonneneinstrahlung lächelt die Freiheitsstatue wie die Mona Lisa mit hintergründig wissendem, nur zur Hälfte eingebildetem Verstehenslächeln leiser Nachsicht. Für eine Statue ist sie sehr Frau. Wir gehen auf ein feuriges Date.
*
Die Leute in der U-Bahn sehen schrecklich müde aus, selbst untertags, müder noch als bei uns Passagiere im Nachtbus, nicht ganz so müde wie die Einwohner Tokyos, oder anders müde, ausgefranster und herzeigender, während die Japaner in ihrer vornehmen Zurückhaltung etwaige Leidensgenossen mit ihrem Erschöpfungszustand nicht behelligen wollen. Die New Yorker zeigen selbstbewusst, wie es um sie steht. Sie sind müdegeschuftet und müdegehetzt, müdegefressen und müdegesoffen, müdegeshoppt und müdegestrampelt in einer menschenverachtenden Marktlogik, die sie perfide im Glauben hält, der Big Fat American Dream könne sich auch für sie noch erfüllen und habe sich nicht längst in einen Twisted American Nightmare verwandelt. New York ist eine anstrengende Hochgeschwindigkeitsstadt, die ihren Bewohnern alles abverlangt, als geräderte Gestalten schlagen sie sich durch.
Walter Müller
Von der Drecksarbeit und von der Würde
(Auszug aus einem Essay aus Alles ist so wie immer – nur du fehlst!, Tauriska Verlag, Neukirchen/Salzburg, 2020)
Wo kann man sich mit den Füßen voran aus dem Haus tragen lassen, wenn nicht auf einem Bauernhof? Gibt es das noch? Betet ihr immer noch am offenen Sarg? Küsst ihr eure Toten auf die Lippen? Wir in der Stadt machen das seit kurzem auch wieder. In entsprechenden Trauerräumen. Ihr seht: wir lernen von euch!
Meine Großmutter-väterlich musste mit einem Reisbesen den Holzboden schrubben, auf allen Vieren, das war in den dreißiger Jahren, und einmal, als ihr Mann, mein Großvater, die Bestie, die ich Gott sei Dank nicht gekannt habe, stockbesoffen nach Hause kam, hat er ihr mit dem Stock das Baby, das ein Onkel oder eine Tante hätte werden können, aus dem Bauch geprügelt. Der Holzboden war voller Blut. Mitten in der prachtvollen Stadt Salzburg, im hintersten Hinterhof, damals ... in der Siedlung hinter dem Lehener Hof.
Wir haben keinen Herrgottswinkel in unserer Wohnung … aber an einer Wand im Flur, bevor man ins Wohnzimmer kommt, einen Gekreuzigten mit gebrochenen Armen auf einer verwitterten Lungauer Dachschindel befestigt … und rechts eine sehr schöne japanische Geisha; der Herrgott aus ungebranntem Ton, die Geisha hinter Glas, auf Seidenpapier. Manchmal weiß ich nicht, zu wem ich beten soll.
Meine Großmutter-mütterlich, die wunderbare Frau, Kafka war ihr Name, ist in ihrer Schneiderinnen-Anfangszeit zu den Walser Bauern auf die Stör gegangen. Hat auf Befehl und nach Wunsch den Bäuerinnen ihre Kleider und Mäntel genäht. Wenn sie davon erzählt hat, hat sie so erzählt, als wäre sie bei den Adelsfamilien zu Werke gewesen. Als hätte sie einer „Von-und-zu“ etwas zugenäht.
Ich, der Enkelsohn, bin viele Jahre später ein paar Mal in Rauris zu den Bauern auf die Stör gegangen, in die Bauernstuben, um im Herrgottswinkel aus meinen literarischen Werken zu lesen. Für eine Speckjause und ein Bier, ein Glas Wein, oder beides. Ich kann mich an keine besseren Gagen erinnern. Die Bauersleute heute sind so klug wie die Stadtleute.
Im Advent rede ich immer noch wie ein altkluges Kind vom Stall, in dem Gott zur Welt kommt. Vom heiligen Paar und vor allem von den Hirten, deren Bruder ich bin. Ich, das Hinterhofkind. Im Stall wäre ich verloren. Ich komme aus dem Hinterhof und mich interessiert das Hofzeremoniell keinen Deut. Ich suche nach Wahrhaftigkeit, nach der erdigen Würde, auch wenn man dabei den Kopf einziehen muss. Grad wenn man dabei den Kopf einziehen muss! Die Kühe sind doch angekettet, oder? Ich bin’s, der Mann aus der Stadt! Lasst mich ein, lasst mich euer Hofnarr sein, für eine Nacht oder zwei…
Anna Nindl
Stadt / Land (unveröffentlicht)
Im Rucksack habe ich neben all den anderen Dingen selbstgemachtes Müsli, ein Marmeladenglas und frisches Gemüse. Kurz vor der Abfahrt noch schnell oben reingepackt. Im Zug sein ist immer ein Dazwischen-Sein. Vorgenommene Arbeiten werden fast nie erledigt, da die Gedanken hängen bleiben. Gegenüber oder neben mir sitzt fast immer eine Gruppe mittelalter Frauen mit Sekt und Gelächter. Sie fahren in die Stadt und schauen sich ein Musical an. „Auf den Mädlsausflug!“ sagen sie, wenn sie anstoßen. Eine meiner größten Erkenntnisse - scheinbar niemand in der Stadt kommt auf die Idee ins Musical zu gehen. Die Plätze sind für eben diese Ausflüglerinnen reserviert oder für das Abendprogramm von Familien, die so jemanden wie mich in der Stadt besuchen.
Am U-Bahn-Steig geschieht dann der Szenenwechsel endgültig. Die Abwesenheit von Begrüßungen und Wie-nett-das-Wetter-ist- oder Bist-auch-wieder-mal-daheim-Floskeln klingt noch kurz nach. Die ersten Stationen schaue ich Mitfahrende noch direkt an, aber bald bin ich in der Anonymität wieder ganz angekommen.
Ich schicke ein Foto, dass ich Müsli jetzt auch selber mache und den ersten Salat am Balkon anpflanze. Nachdem ich vorher zwei Mal anrufe und frage, wie genau ich es machen soll. Auch meine Freundinnen rufen bei den Eltern oder Großeltern an, für ein Rezept oder für eine Anleitung, wie der Wasserhahn repariert gehört. Im Umkehrschluss erhalten wir Anrufe um Freuden und Konflikte des Familienlebens anzuhören oder auch um Meinungen zu politischen Ereignissen zu bejahen.
Wir erzählen gerne davon, wo und wie wir aufgewachsen sind. Wir finden uns in den Berichten der anderen wieder: Einfamilienhäuser, Skiausrüstungen im Keller und Ministrantinnen-Vergangenheiten. Außerdem fürsorgliche und mehrfachbelastete Hausfrauenmütter, die Kindergärtnerinnen, Altenpflegerinnen oder Krankenpflegerinnen sind und in der Dorfgemeinschaft angesehene Väter, die stets schwanken zwischen Auf-uns-stolz-sein und uns erinnern, dass wir die wahre Realität noch nicht kennen, sowie Geschwister und Cousinen, die sich von der elterlichen Obhut direkt in selbstgebaute Einfamilienhäuser begeben.
Wir teilen dann auch gerne Geschichten von festgefahrenen Strukturen und Rollenbildern, nicht-tolerierten Vegetarismus oder Veganismus und starrer Arbeitsmoral. Wir reden dann vom Ausbruch daraus und Reflexion darüber, wie uns das noch immer prägt.
Manchmal wehren wir uns gegen Pauschalisierungen wie auch Idealisierungen des Dorflebens. Unsere Kritik schlägt schnell um in Verteidigung, wenn Abschätziges aus anderen Mündern kommt. So sehr sich die Grenze zwischen Stadt und Land durch unser Leben zieht, wollen wir wohl irgendwie selber der Beweis sein, dass es sie nicht gibt.
Alexander Peer
Auszug aus: Bis dass der Tod uns meidet (Limbus Verlag, Innsbruck, 2013)
Rebecca erzählte von einem vor Kurzem unternommenen Ausflug aufs Land mit Rioja und Manchego, von den Tanninen, die den Mund aushöhlen, die Zunge dunkelrot einfärben, sie lederner und lederner werden lassen, Rachen und Kehlkopf betäuben. Ich sah während unseres Spaziergangs durch den Wegerpark den Traunsee in der Mitte der Wiese flimmern. Hier hatte sie das ewige Leben geprobt und mit der zweiten Flasche Wein hatte sich die Lücke geschlossen zwischen den Gefühlen, die sich in ihr rieben, und den Worten, die für diese Gefühle einstanden. Der akrobatische Zwang, der Sprache eine überhöhte Bedeutung abzuringen, fiel ab. Mit jedem Schluck wurde das Gesagte selbstverständlicher, vertrauter, kein Zweifel mehr drängte sich zwischen Herz und Kopf. Was gut war, nannte sie auch so.
Sie erinnerte sich an den Abend, als das Licht ausgegangen war und die achtjährige Rebecca in ihrem verwunschenen Gartenhaus allein mit einer Kerze der Dunkelheit trotzte und nicht wusste, wer käme und sie holen würde. Sie witzelte über Hesse und zitierte Nabokov. In ihrer Hand schien ich jetzt die flackernde Kerze von damals auszumachen, die ganz verängstigt war, dass man sie aus dem warmen Hort der Erinnerung in die ungefilterte Gegenwart hinaustrug, und die schließlich an einem Herzschlag erlosch, als an der Kreuzung ein Auto hupte. Im Gehen machte Rebeccas Körper größer und größer werdende Sprünge, bis sie aufstieg und ich ihrem seltenen Gefieder nachblickte, federleicht flog das wehende Wesen über den Zebrastreifen einer Straßenbahnhaltestelle zu. Dort – an der Bank – beruhigte sich das Geschöpf, ließ die Flügel sachte angelehnt. Ich sah ihr nach und dachte: „Tja.“
Waidmanns Los (aus: Gin zu Ende, achtzehn Uhr. Limbus Lyrik, Innsbruck, 2021)
Das Drängen der Zeit
spüre ich als Puls
dem Sekundentakt vorauseilend.
Weiß ich, wonach ich jage?
Eingerichtet habe ich mich,
mit Kompass, Flinte und Horn sowie
Papier, Feder und Korn.
Worauf kann ich abzielen,
ich ontologisch
halbe Portion?
Spähe in eine Welt
der Täuschung und Enttäuschung,
frage mich, ob dies alles ist,
worauf Tauschen aus ist?
Ich habe ein Visier,
aber meine Kraft schafft
zu leichte Munition,
um Visionen durchschlagend zu machen.
Am höchsten Aussichtspunkt,
dem Jägerstand
formvollendeter Reflexion,
erkenne ich das Land um mich
und kann es dennoch nicht begreifen.
Martin Peichl
Was bleibt, ist Stille im 4 / 4 - Takt (aus: Wie man Dinge repariert, Edition Atelier, Wien, 2019)
Wenn du ans Land denkst, dann denkst du an beim Fahrradfahren verschluckte Fliegen, an Dorffeste mit billigen Mixgetränken, an von der RAIKA gesponserte Parkbänke, an das Geräusch von Kreissägen am Wochenende, an bei Glatteis in den Straßengraben gerutschte Postbusse, an deinen ersten Lungenzug auf einem Hochstand, an deinen ersten Kuss beim Flaschendrehen, an den Geschmack von in der Hosentasche warm gewordenem Kaugummi, an stillgelegte Bahnhöfe und an Weichen, die keiner mehr stellt, an mit dem Mund aufgeblasene Luftmatratzen, denkst an die Spielsachen deiner Kindheit am Dachboden in Kisten verstaut und beschriftet, denkst und denkst und denkst, und deine Gedanken baumeln.
Wenn du ans Land denkst, denkst du an Bier, das nach Feldweg schmeckt, an in halbvollen Gläsern ersoffene Wespen, an den Geruch von frisch gemähtem Gras, an im Lagerfeuer verbrannte Briefe, an die Mohnnudeln deiner Mutter, an den Bierbauch deines Vaters, an die Barbiepuppen deiner Schwester und wie unheimlich sie nackt ausgeschaut haben.
Wenn du ans Land denkst, denkst du an deinen ersten Computer, an das Geräusch, das dein Modem gemacht hat, an das Läuten des Telefons, und keiner geht hin, an Sommergewitter und Stromausfälle und Kerzenlicht und Wachs auf deinen Fingern.
Wenn du ans Land denkst, dann denkst du an Senkgruben und Misthaufen und Silos und Böschungen, an von Autos überfahrene Katzen, Adventskränze und Grablichter. Wenn du ans Land denkst, denkst du manchmal daran, irgendwann zurückzukehren. Irgendwann – aber das Wort liegt ganz feucht und schwer auf deiner Zunge.
Wenn du ans Land denkst, denkst du an verregnete Hochzeiten und an Begräbnisse bei fast vierzig Grad im Schatten, dann denkst du an Hollywoodschaukeln und Grillen am Balkon, das Hineinstechen mit der Gabel in die Käsekrainer, um zu testen, ob sie schon fertig sind, und als deine Mutter vierzig wird, feiert ihr in der Garage, alle Nachbarn sind eingeladen, es gibt Bier vom Fass, und du erlebst deine Mutter das erste und letzte Mal in deinem Leben betrunken, und am nächsten Tag gibt es nichts zu essen, weil ihr so schlecht ist – auch daran denkst du, wenn du ans Land denkst.
Du denkst außerdem daran, wie dir dein Vater gezeigt hat, wie man sich rasiert oder wie man eine Motorsäge richtig hält oder wie man mit Handbremse bergauf wegfährt, denkst an das alte Auto deines Vaters, in dem deine Mutter auf dem Weg nach Hause von der Straße abgekommen ist, mit dem sich deine Mutter dreimal überschlagen hat, aus dem deine Mutter mit nur drei blauen Flecken ausgestiegen ist, so als wäre sie unsterblich.
Wenn du ans Land denkst, dann denkst du an den kleinen Fußballplatz gleich neben dem Kinderspielplatz, an den einen Onkel, der immer nach Wein riecht, egal um welche Uhrzeit, an Blasmusik und Fürbitten, an Mopedfahren und Wasserschlachten mit den Nachbarskindern, an die erste feste Freundin, das Miteinander-Gehen und dass man dann doch wieder in unterschiedliche Richtungen weitergegangen ist, an Volleyball beim Badeteich, an dein erstes Handy mit Antenne und an die gemeinsamen Abende vorm Röhrenfernseher, ans Schauen von Universum oder vom Wetterbericht.
Wenn du ans Land denkst, bewegt sich ein Gletscher in dir, aber in der Gefriertruhe gibt es noch Eis, auf das kannst du dich verlassen, in der Gefriertruhe gibt es noch Eis und Fleisch und Tiefkühlpizza.
Wenn du ans Land denkst, dann denkst du an die einzige Disko weit und breit und an Schaumpartys und Menschen, die zu den größten Hits der 80er- und 90er-Jahre tanzen, zu den größten Hits der 80er- und 90er-Jahre schwitzen, und nach ein paar Runden Tequila ist das Wochenende vorbei, und zwischen den Zähnen stecken noch am Montag die Zitronenreste.
Wenn du ans Land denkst, dann auch an dein erstes Mal Wählen in einem der beiden Wirtshäuser im Dorf. Und als du deine Stimme abgibst, riecht es nach Schweinsbraten, und am Stammtisch im Nebenzimmer werden die Karten laut auf den Tisch geknallt, und die Weingläser scheppern. Als du das Wirtshaus verlässt, ist es kurz nach Mittag und es schaut nach Regen aus. Am Abend fährst du dann zurück in die Stadt, in der du studierst, und denkst darüber nach, warum du nie zu Hause bist.
Wenn du ans Land denkst, denkst du an den Heizraum. Dort steht noch immer ein rotes Kofferradio, dort hängt noch immer die alte Bundesheerjacke deines Vaters, und in den Spinnweben klebt ganz fein der Holzstaub, und da liegt ein Stapel Zeitungen, und du machst Feuer. Eine halbe Stunde später dann ticken die Heizkörper.
Wenn du ans Land denkst, denkst du an Häuser, die jetzt leer stehen, an Zimmer, die einmal bewohnt waren, an Geräusche, die es nicht mehr gibt, weil es die Menschen nicht mehr gibt, denkst an die Geräusche, die du früher nicht gehört hast und die jetzt so laut sind, weil sie fehlen.
Wenn du ans Land denkst, dann denkst du an den Mond, den man nicht fotografieren kann, und an Sonnenaufgänge, die man nicht fotografieren kann. Wenn du ans Land denkst, denkst du an deine Cousine mit den toten Zwillingen im Bauch.
Wenn du ans Land denkst, dann auch daran, dass du deiner Schwester versprochen hast, nicht mehr so viel zu trinken, deiner Schwester, die sonst kein Wort gesprochen hat die ganze Autofahrt lang, dir nur dieses eine Versprechen abgenommen hat, dann hat sie beschleunigt, und das Fernlicht des Autos hat die Felder am Straßenrand berührt und ist irgendwann in einem leer gefischten Teich untergegangen.
Wenn du ans Land denkst, denkst du an das Stück Wald, das jetzt dir gehört und in dem du deinen Großvater gefunden hast, der seit zwei Tagen verschwunden war. Du wolltest deinen Großvater nicht finden, aber du hast ihn gefunden, tief im Wald. Zuerst hast du nur seinen Schatten gesehen, dann seinen Körper, wie er baumelte in den Ästen. Alles war still, in dir drin war es am stillsten. Wenn du ans Land denkst, dann baumelt dein Herz und du spürst die Tannennadeln unter deiner Haut. Wenn du ans Land denkst, hörst du den Wind zwischen deinen Rippen und wartest auf das Geräusch von splitterndem Holz.
Karin Peschka
Schöpfwerk
(veröffentlicht in Literatur und Kritik, Nr. 543/544, Salzburg, 2020)
In einem Autorinnenporträt oder einer Rezension wurde erwähnt, dass ich bei Interviews zuverlässig auf meine Herkunft verweise, auf mein Aufwachsen als Wirtstochter in einer oberösterreichischen Kleinstadt. So ist es eben: Ändern sich die Fragen nicht, warum sollten es die Antworten tun?
Immerhin hat mir diese Herkunft ein gut gefülltes Schöpfwerk beschert. Gesehenes, Erfahrenes, Gedachtes, Erträumtes, auch Erlittenes findet sich darin. Mehr als dreißig Jahre ausschließlich in Eferding zu leben, in der nach Krems und Wien drittältesten Stadt Österreichs, hatte ich nicht geplant. Im Gegenteil, spätestens mit vierzehn begann ich mich danach zu sehnen, dieses Nest so bald wie möglich zu verlassen. Bezirkshauptstadt. Daumen mal Pi dreieinhalbtausend Menschen. Erwähnt im Nibelungenlied: Nu was diu küneginne ze Everdingen komen.
Dass sich vor kurzem ein McDonalds angesiedelt hat, nützt dem Budget der mit Leerstand kämpfenden Stadtgemeinde nichts, denn der große, im Sommer hitzestrahlende Parkplatz, in den man das Fastfood-Restaurant hineingestampft hat innerhalb weniger Wochen, gehört zu Pupping, einer Nachbargemeinde.
Dieser Parkplatz, der früher eine Wiese war oder ein Feld, ist einem Einkaufszentrum vorgelagert, besser gesagt, einer Einkaufszeile: Pagro, Fressnapf, Ernstings Family nebeneinander im Zweckbau, Auslage an Auslage. Gleich nach dem ersten Kreisverkehr, rechterhand, direkt vorm Hofer. Auf dieser Seite finden sich noch ein großer Eurospar, Fussl Modestraße, DM und ein Schuhgeschäft, das einer ansässigen Familie gehört. Seit ich denken kann, hat diese Familie ein Geschäft in der Stadt, und die Filiale am Ortsrand vielleicht als Absicherung eröffnet, dort, wo man zu einkaufsstarken Zeiten kaum einen Parkplatz findet. Wo die Laufkundschaft eine Fahrkundschaft ist, die nach den großen Besorgungen nicht wechselt in das sich leerende Stadtzentrum, sondern das Auto umparkt.
Denn linkerhand, ein Stück weiter entlang der Einfahrts- und Durchfahrtsstraße, wartet hinter einer Tankstelle die nächste Einkaufszeile: Tedi, Dänisches Bettenlager, Libro, C&A, eine Apotheke und ein Lidl. Die Namen der zwei Kleidergeschäfte (beides Ketten) habe ich im Moment nicht parat.
Parat habe ich dieses Bild: Nach Kreisverkehrumrundung fuhr ich auf eben erwähnter Straße Richtung Eferding, ein schöner, sonniger Tag. Durch die Glasfronten war zu erkennen: Dem McDonalds geht es gut. Vor dem Drive-In-Fenster stand kein Auto in Erwartung des McMenüs, sondern lehnte eine Frau in braunen Hosen und blauem T-Shirt. Sah aus wie in Uniform, sah aus, als ob sie sich in der Sonne den Rücken wärmte. Eine Frau, vierzig oder älter, bequem plaudernd, angekommen in ihrer neuen Teilzeit, die Kinder in der Schule, im Hort, dazuverdienen, nicht nach Linz auspendeln müssen, ein Segen.
In unserem alten Elternhaus besitze ich unterm Dach ein Arbeitszimmer, das ich sporadisch nütze. Kaum jemand begegnet mir, bin ich spätnachts draußen unterwegs, in der bei jedem Wetter wunderbar dunklen Luft, die nach Feldern riecht, nach Ackerboden, nach Kraut, nach Asphalt, nach Vorgärten, nach nassem Gras, nach Schnecken, nach Fröschen, nach Au, nach der Donau, die ganz nah ist, aber nicht nah genug. Eferding ist so klein, dass das Land die Stadt durchzieht.
Die Erinnerung an meine Kindheit hier ist ein helles Wimmelbild. Es gab allein in unserer Straße, ach was. Damit fange ich nicht an. Alles war sehr lebendig, das genügt, man kennt sich aus. Mein Bruder, meine Schwester und ich wurden hierhin und dorthin geschickt, einkaufen, Wechselgeld holen, Schnittlauch und Milch. Oft stand eine Friseurin in unserer Wirtshausküche, der Duft nach Shampoo und Haarspray mischte sich mit den Herd-Gerüchen, dann servierten wir quer über die Schmiedstraße in ihren Salon.
Als Kind war ich somit Teil einer Lebendigkeit und fühlte mich frei. Und zugehörig, denke ich, zu diesem Netzwerk aus Geschäftsleuten, Geschäftsfamilien, Geschäftsbeziehungen. Ich half der Verkäuferin in der Bäckerei, erledigte Besorgungen für die einen Großeltern, fürchtete die Hunde, die auf dem Gelände des Eisenhandels der anderen Großeltern frei herumliefen, bis ich sie nicht mehr fürchtete. Fuhr, erfuhr mir Land, Hügel, Dörfer mit dem Fahrrad, später mit dem roten Puch Maxi, da war das Gefühl der Freiheit schon ein anderes geworden und die Zugehörigkeit ein lockeres Geflecht, das keinen Halt mehr versprach.
Den Helm halb offen (wegen der Luft, dieser würzigen), im Rucksack eine Flasche Sekt, unterwegs zur Party einer Schulkollegin. Auf dem Feldweg verbremst, gestürzt, den Ellbogen aufgeschürft, die Flasche zerbrochen. Es machte nichts. Ich tröstete mich aus dem Zusammenhang heraus: Bald, gleich nach der Matura, geh ich nach Wien, studieren.
Denn im Ausmaß, in dem ich größer wurde, war in mir eine tiefe Einsamkeit entstanden, zu ertragen nur durch den Gedanken ans Weggehen. Wollte nicht mehr angesprochen werden, nicht mehr gefragt, warum ich traurig bin oder bös dreinschau, und war doch beides nicht, weder traurig noch bös, sondern, so will ich es nennen, inwendig leicht entrückt. Eine Nestflüchtende, die nur im Denken flüchten konnte. Was sich ändern sollte, verdammt noch mal, und tat es nicht: kein Geld, daher arbeiten für's Selbsterhalterstipendium, dann sehr krank, dann schwanger. Die reale, leibliche Flucht undenkbar.
So sehe ich es heute: Das Idyll der frühen Jahre, sofern es eines war (jede Erinnerung erzählt Lügen), basierte auf der Vorstellung, in diesem Gewimmel fände sich auch für mich ein Platz, für dieses kleine, wachsende, nach Glück suchende Wesen.
Erst als mein Sohn elf war, bin ich mit ihm nach Wien gezogen. Ich erinnere mich daran, in einem Kaffehaus in der Mariahilferstraße Campari Orange getrunken zu haben. Ich war, so die Sensation, völlig unbeobachtet. Die Freiheit des Moments: Niemanden zu kennen.
Hier, im zweiten Bezirk, gehe ich aus dem Haus, und das Unruhige beruhigt sich im Unruhigen. Versteht sich das? Das Alleinsein ist gewollt und einfach zu bekommen. Die Anonymität ein Vorteil. Gesehenworden bin ich in meiner Kindheit, Jugend und als junge Frau genug.
Mein Fazit der Gegenüberstellung beider Welten: Es gibt keine Provinz, keine trennscharfe Unterscheidung in Stadt und Land. Was es gibt, ist die Verdichtung. Jene der Freundlichkeit, der Mißgunst, des Wohlwollens, der Gleichgültigkeit, des Neids, der Aufmerksamkeit. Das alles kann dir in jedem Dorf passieren, in jedem Studentenheim, Gemeindebau, in jeder Wohnhausanlage, im Großraumbüro, überall.
Im Ländlichen verdichtet sich das eine mehr (die Nähe, die Beobachtung), im Großstädtischen das andere (die Distanz, das eigene Beobachten). Mein Glück ist, mit dem Schreiben etwas gefunden zu haben, das der Inwendigkeit eine äußere Legitimation gibt – und derart erklärt und verstanden, finde ich mich hier wie dort zurecht und kann, Zusatzbonus, auch das Gesehenwerden leichter ertragen.
Ohnehin verschwimmen die Grenzen. In Wien mag es eine größere Auswahl an Fastfood geben. Dafür prangt hoch oben am Turm der Eferdinger Spitalskirche – man muss genau hinsehen, um das zu erkennen – ein Wasserspeier in Form eines nackten Hinterns. Ein Statement, ich hab vergessen, wofür.
Petra Piuk
3. Eine heile Welt (aus: Toni und Moni oder: Anleitung zum Heimatroman. Kremayr & Scheriau, Wien, 2017)
3.1. Vorbemerkung
Im Heimatroman ist die Welt noch in Ordnung. Daher spielt der Heimatroman in einem Dorf, in dem die Welt noch in Ordnung ist: In Schöngraben an der Rauscher. Hören Sie die Rauscher plätschern? Die Kirchenglocken läuten? Den Hahn krähen? Dann sind Sie hier richtig.
3.2. Ein Spaziergang durch Schöngraben an der Rauscher
Herzlich Willkommen. Grüß Gott. Kein Eingang. Eingang um die Ecke. Gerne verwöhnen wir Sie kulinarisch. Montag Ruhetag. Dienstag Ruhetag. Donnerstag Ruhetag. Heute geschlossen. Wir wollen hier nichts kaufen und nichts spenden. Haus zu verkaufen. Lokal zu verkaufen. Echtes Kernöl zu verkaufen. Typisch österreichische Kost. Für den kleinen Hunger. Schweinsbraten. Zigeunerschnitzel. Spinatknödel mit brauner Butter. Nach alten Rezepten. Kundeninformation. Unser Garten ist kein Hundeklo. Kommen Sie wieder. Beste Unterhaltung garantiert. Singkreis. Volksmusikabend. Bauernschnapsen. Eröffnungsschießen. Katholischer Frauenverein. Laufhaus täglich ab 11:00 Uhr. Achtung. Raum wird videoüberwacht. Hier wache ich. Pflichtgetreuer Hund! Betreten verboten. Parken verboten. Plakatieren verboten. Umherlaufen, spielen und lärmen verboten. Aufenthalt verboten. Dein Wille geschehe. Grenzweg. Vorsicht Lebensgefahr! Erfahrung und Verlässlichkeit. Den toten Helden der Gemeinde. Jetzt ist der Tag der Rettung. SOS-Notruf. Außer Betrieb. Notausgang. Behördlich versiegelt. Missbrauch wird gesetzlich bestraft. Gashaupthahn. Qualitätswerkzeuge made in Austria. Mehr geht echt nicht. Eltern haften für ihre Kinder. Hier ist das Lächeln zu Hause. Auf Wiedersehen.
Jakob Pretterhofer
Lainz (Auszug, unveröffentlicht)
Nach dem Essen machte sie trotz ihrer Schmerzen ein paar Schritte im Park zwischen den Pavillons des Krankenhauses. Die frische Luft tat ihr gut. Sie setzte sich neben einem Mann, der eine großformatige Zeitung las, auf die Bank, das dünne Zeitungspapier flatterte im Wind. Sie genoss die Sonnenstrahlen. Vielleicht waren es die letzten dieses Jahres, bevor es für Monate wieder finster und bedrückend wurde. Winter in der Stadt, das war auch so etwas, was sie hasste.
Sie war seit über zwanzig Jahren nicht mehr im Winter zuhause gewesen. Sie nannte es 'zuhause', obwohl sie sich dort, in dem hügeligen Ödland, nie so gefühlt hatte. Aber so düster wie in Wien war es weder in ihrem Heimatdorf noch in Maribor, wo sie eine Zeit lang gearbeitet hatte, jemals gewesen. Alle paar Jahre schaffte sie es, im Sommer ihren Bruder zu besuchen. Von einer Idylle war der Ort weit entfernt, auch wenn die zwanzig Jahre seit ihrer Flucht die Erinnerungen an den Ort ein wenig verklärt hatten. Die Nachbarn waren in ihrer Vorstellung sanfter und weniger verhärmt, die Teller üppiger gefüllt, das Miteinander respektvoller und fröhlicher. Sie war aber weniger vor dem Ort als vor ihrem eifersüchtigen Mann geflohen. Der hatte ihr mehrmals damit gedroht, sie zu erschlagen oder zu erwürgen. Wenn er nur bemerkte, wie sie einen anderen Mann ansah, und sei es einen alten, knorrigen Bauern, der ihr zwei Eier schenkte, und sie zum Dank nickte und schüchtern lächelte, packte er sie schon an den Schultern und warf sie zu Boden.
Und dann diese Aussichtslosigkeit. Nachdem ihre Mutter und ihr Vater, den sie monatelang gepflegt hatte, gestorben waren, hatte sie bloß ein sich schief gegen den Hang lehnendes Bauernhaus mit Lehmboden, zwei Kühne, zwei Schweine, einige Hühner und Hasen und ein paar Quadratmeter staubiger Erde geerbt.
Sie war schon völlig erschöpft, neben der Arbeit im Heim hatte sie noch ihren Vater versorgt, ihn täglich gefüttert, gewaschen und hin und her gedreht, damit er sich nicht wundlag. Sie hatte ihm auch vorgelesen und vorgesungen. Sie hatte es gerne gemacht. Nie hätte sie sich beschwert. Ihr Vater war ein guter Mensch gewesen, er hatte es verdient, so umsorgt zu werden. Für ihre Phantasien, wo anders hinzugehen und dort noch einmal von vorne zu beginnen, hatte sie sich geschämt. Sie erzählte niemandem davon, aber die Bilder von einem Neubeginn, von einer Zukunft in einem anderen Land, hatte sie schon damals. Als sie schwanger wurde, hatte sie gedacht, damit wäre es mit diesen Träumereien vorbei, aber die Bilder verschwanden nicht.
Robert Prosser
Fremdes Land, fremde Stadt (aus: Beirut im Sommer. Journal. Klever Verlag, 2020)
Gebüsch hängt über den Metallzaun eines Parks, schwere, rosa Blüten, in deren Schatten alte Männer Sonnenblumenkerne knacken. Von Schatten zu Schatten der Sonne ausweichend gelangen wir zu einem Checkpoint. Betonsperren, Stacheldraht, Sandsäcke, Soldaten winken Autos und Fußgänger durch. Auf der Mauer des nächsten Gebäudes prangt ein riesiges Gemälde, Yassir Arafat vor dem Felsendom Jerusalems. Das Porträt wirkt als eindeutiges, unübersehbares Signal. Hier beginnt das Areal der Palästinenser. Beidseits der Straße ein Friedhof, jener zur Linken ist den Märtyrern vorbehalten. Eingefasst von hohen, aus Wellblech zusammengeschweißten Wänden ein Schrottplatz, in der Hand eines Mechanikers blitzt im rußigen Verschlag die blaue Flamme des Schweißgeräts.
Wir umrunden einen Wohnblock, unweit einer Moschee beginnt die von Schlaglöchern übersäte, von Ziegen und Schafen belagerte Hauptstraße Shatilas. Über den Kreuzungen spannt sich ein Gewirr an Stromkabeln, zwischen den Häusern hängen Banner politischer Fraktionen oder von den vergangenen Ramadan-Feierlichkeiten gebliebene Fähnchen. Manchmal, ohne dass sich die Quelle ausmachen ließe, wallt Gestank auf, der mir den Magen umdreht. 1948 gegründet, um 3000 palästinensischen Flüchtlingen eine Bleibe zu schaffen, ist Shatila mittlerweile zu einem der ärmlichsten Wohnviertel Beiruts herangewachsen, dessen unterste Hierarchiestufe von syrischen Flüchtlingen besetzt wird. 1982 wurde es zum Schauplatz des berüchtigtsten Massakers des libanesischen Bürgerkrieges: Die maronitisch-katholische Phalangisten-Miliz drang, abgeschirmt von der israelischen Armee, in die beiden Camps Sabra und Shatila ein und tötete innerhalb dreier Tage mehrere hunderte (oder je nach Quelle tausende) Zivilisten. Es sei ein Markt für billige Waren, unbrauchbares Zeug en masse, so der Konsens der Bewertungen auf Yelp, man gehe besser nicht in die Seitengassen, wo man mit einer Klinge an der Kehle ausgeraubt werde, zwei von fünf Sternen. Auf etwa einem Quadratkilometer leben geschätzt 40000 Menschen. Voriges Jahr strichen die USA ihre bisherige Unterstützung für palästinensische Lager, der UNRWA brach somit eine der maßgeblichen finanziellen Hilfen weg. Erst wurde die Müllabfuhr eingespart, die Kanalisation funktioniert nicht mehr, mit dem Wasser, das aus den Leitungen kommt, wäscht man sich besser nicht das Gesicht.
In den Gassen abseits der Hauptstraße reihen sich Kioske, Werkstätten, Cafés. An den Wänden Abbilder von Märtyrern, die für die PLO oder die Fatah gefallen sind, eines zeigt einen grinsenden Jungen auf einem Sofa, in den Händen ein goldenes Maschinengewehr. Wider Erwarten erinnert nichts an das Verbrechen von 1982; irgendwo, erfahren wir von einem Jungen, müsste es ein Monument geben, anscheinend in einem Innenhof nahe des Marktes. Einige Plakate werben darum, sich dem bewaffneten Kampf gegen Israel anzuschließen, der Großteil zeigt Yassir Arafat. Bei der Hisbollah ist es Nasrallah, dessen Gesicht man nicht entfliehen kann, Shatila dagegen gehört dem 2004 verstorbenen PLO-Führer. Lächelnd oder skandierend, um den Kopf das ikonische, schwarz-weiß gemusterte Kufiyeh-Tuch. Beinah ebenso häufig sehen wir Kalaschnikows, gemalt an den Wänden oder als Spielzeug am Markt. Uns kommen Typen entgegen, die wie das Klischee eines abgebrühten Veteranen wirken: vernarbte Gesichter, militärisch aufrechte Haltung, sie werden von den Verkäufern gegrüßt, junge Kerle mit Baseballcap und Muskelshirt schwänzeln ihnen nach. Falafel kosten 1000 LP, ein Kaffee 500 LP, umgerechnet 60, bzw. 30 Cent. Die Preise geben Auskunft, in welcher der vielen Welten Beiruts man sich befindet. In der Nähe unserer Unterkunft liegt beispielsweise die Ausgehmeile Badaaro. Dort kostet ein Espresso 3250 LP, das Bier 11000 LP, ein Sandwich 15000 LP – 2 oder 6,50 oder 9 Euro. Ein altes Pärchen wankt durch eine Gasse, mit einer Hand hält der Mann einen Infusionsbeutel hoch, gelbliche Flüssigkeit rinnt durch einen Schlauch in den Arm der Frau. Der Weg endet im Schatten verwinkelter Hausmauern, vor einer rostigen Tür scharrt ein angepflockter Hammel in der festgetretenen Erde.
Als ich mit einer hier ansässigen NGO telefonierte, sagte man, dass wir eine Genehmigung bräuchten, auf keinen Fall dürfte man unbegleitet nach Shatila. Diese Weisung scheint übertrieben. Shatila ist aufgekratzt, heiß und staubig. Westafrikanische Mädchen in Hotpants, halbnackte Kinder, die von ihren in Tschador gekleideten Müttern in Hauseingänge gezerrt werden. Bärtige Männer mit dem dunklen Mal des Gebetssteinchens auf der Stirn, Teenager auf der Suche nach Hasch oder Liebe, Schlitzohren, bereit für einen schnellen Dollar: Der Alltag zeigt sich lebendiger als das touristische Gebahren an der Corniche. Auch hier scheint ein ständiges Flanieren stattzufinden, Sehen-und-Gesehen-werden, doch wirkt es aufregender als die überteuerte Variante an der Meeresküste. An der Moschee vorbei gelangen wir zu einem Markt. Gemüsestände und Metzger, auf Tischen bleiche Organe, von blauen Adern durchzogen, wie emailliert. Wir brauchen mehr Zeit, sagt Leo, wir dürfen uns nicht nur treiben lassen. Doch gibt es keine andere Option, als in Bewegung zu bleiben, anders können wir mit diesem Ort nicht fertig werden. Heute wollen wir kreuz und quer wandern, das nächste Mal aber werden wir uns auf Details konzentrieren. In den Gassen verweilen, in einem Café sitzen, um mit den Menschen aus Syrien, Palästina, Äthiopien und den Philippinen ins Gespräch zu kommen. Das Konterfei Arafats, der Markt, die schimmernden Organe, aus all dem ließen sich Serien fertigen, Fotos der Märtyrer und der dunklen Aufgänge in die Wohnbauten. Die Wassertanks auf den Dächern. Die Tiere.
Susanne Rasser
3 Gedichte
GABRIEL
Der hat keinen Anschluss gesucht,
sagen die Dörfler,
der hat sich ja nie bemüht.
Kam er aus Polen, der Tschechei?
Sein Deutsch gebrochen.
Er geht nicht zur Kirche,
sitzt nicht im Wirtshaus,
aber er arbeitet
noch immer
wie ein Vieh.
VOM FINDEN
An deiner Seite querfeldeinstiefeln,
das heißt: nichts mehr suchen müssen.
Die Himmelsschlüssel, Teufelskrallen,
Knollen, Blätter, Pilze,
ja, sogar den Kuckucksklee
nicht mehr abreißen,
dem Sammeltrieb,
der Morgensorge ein Schnippchen schlagen.
Keine Ausbeute: keine Last.
Mit aufgefächerten Händen
über Birkenrinden,
auf leisen Sohlen
über Moos, Stein, Wurzelwerk.
Die Sonne
anhimmeln,
die Erde
berühren, behüten,
bewahren wollen.
AUFS OFFENE FELD
Unser Dorfgendarm sticht eine Sau ab,
der hat das gelernt.
Mit gleichmäßigen Bewegungen
rührt die Bäuerin Blut
zu Wurst, würzt scharf, lässt stocken,
das kommt frisch
auf den Teller.
Danach trägt und legt Madame Bäuerin
die Schweinsgedärme
aufs offene Feld,
denn im Gebüsch
kann kein Geier landen.
Angelika Stallhofer
Was ich werden wollte
Groß und liniert
(nicht klein und kariert)
aus: Stille Kometen (Gedichte mit Illustrationen von Andrea Zámbori, edition ch, Wien, 2022)
Elisabeth Steinkellner
Auszug aus: Dieser wilde Ozean, den wir Leben nennen (Beltz&Gelberg, Weinheim, 2018)
Wenn die Frau mit dem grauen Mantel sich in den nächsten zwanzig Sekunden umdreht und eine Brille trägt, werde ich ihm heute begegnen.
Er wird in einem Café sitzen, alleine, am kleinsten Tisch im ganzen Lokal, einem Tisch in einer Fensternische. Das letzte Licht des Tages wird durch die Scheibe fallen, ein Licht, das nicht zum Lesen taugt, deshalb wird die kleine Tischlampe dafür sorgen, Helligkeit zu streuen, gerade genug, um über die Seite des Buches zu reichen, in dem er gerade liest.
Es wird eine von Shakespeares späten Tragödien sein.
Es wird der dritte Band eines Future-Fiction-Wälzers sein.
Es wird ein Buch über die schönsten Tauchparadiese der Welt sein.
Den Ellenbogen auf die Tischplatte aufgestützt, den Kopf in eine Hand gelegt, die andere Hand flach über die Buchseiten ausgestreckt. Ein schmaler silberner Ring wird an seinem Daumen stecken.
Mit der Ringhand wird er sich flüchtig eine Haarsträhne hinters Ohr streichen, obwohl das gar nicht notwendig wäre, weil ihm die Strähne ohnehin im nächsten Moment schon wieder in die Stirn fallen wird, aber im Moment des Zurückstreichens wird er kurz hochsehen, ohne bestimmte Absicht, einfach ziellos zum Fenster hinaus.
Und genau in dem Moment werde ich draußen vorübergehen.
Er wird zwei, drei Sekunden brauchen, um mit seinen Gedanken den Sprung von seiner Lektüre weg ins Hier und Jetzt zu schaffen. Den Sprung zu mir.
Aber dann wird er denken: Moment mal, das ist doch ... Und wird kurz zögern, weil er sich nicht sicher ist, wird schnell die Stirn an die Scheibe und die Hände rund um sein Gesicht legen, um die Helligkeit der Tischlampe abzuschirmen und mich, draußen im fahlen Dämmerlicht, dadurch besser erkennen zu können. Wird sich aber immer noch nicht sicher sein. Und trotzdem klopfen. Von innen an die Scheibe.
Und ich werde das Klopfen hören. Es heraushören aus den Geräuschen um mich herum, heraushören aus den Gesprächen und den Automotoren, aus dem Piepen der Supermarktkassen hinter den sich ständig auf- und zuschiebenden Türen, aus dem Poltern ins Schloss fallender Eingangstore und dem Quietschen von Fahrradbremsen. Und obwohl ich nicht wissen werde, ob das Klopfen mir gilt, werde ich stehen bleiben und mit den Augen dem Geräusch folgen, werde dabei über die Schulter nach hinten sehen müssen, hin zu einem Fenster, hinter dem jemand winkt.
Paulus.
Die Stadt ist grau.
Die Häuser sind grau, der Himmel ist grau.
Ich sehe zu meinen Füßen hinunter und zähle die Schritte. Eins, zwei, drei, vier ... fünfundsechzig ... einhundertzwölf ...
Ich steige über Zigarettenstummel und Hundekacke hinweg, über eine leere Energydrink-Dose und einen Haargummi, über einen Parkschein und einen zerschlissenen Kinderhandschuh, aus dem das weiße Innenfutter quillt. Als ich wieder hochsehe, ist alles immer noch genauso grau wie vorher.
»Mann, was ist eigentlich los mit dir?«, hat Lenz gefragt. Das war vor drei Tagen, als ich mein Zeugnis in die Hand gedrückt bekommen habe und einfach keine Lust hatte, auch nur einen einzigen Blick draufzuwerfen. Weil es mich nicht interessiert hat, einfach absolut nicht interessiert. Also hat Lenz mir meine Noten vorgelesen. Die waren durchschnittlich, glaube ich, aber ich habe gar nicht richtig zugehört. Dann hat Lenz gefragt, ob ich am nächsten Tag zu einer Party mitkommen würde. Ich habe mit den Schultern gezuckt und ins Nichts geschaut. Und da hat er es gesagt: »Mann, was ist eigentlich los mit dir?« Und ich hätte ihm keine Antwort geben können. Selbst wenn ich gewollt hätte.
Was ist los mit dir, wenn du keine Ahnung hast, wer du bist oder sein möchtest, welche Zukunftspläne du hast oder was du dir wünschen würdest, käme die berühmte gute Fee vorbei.
Wenn alle um dich herum reden und du die meiste Zeit schweigst, fast so, als würdest du gar nicht ihre Sprache sprechen.
Wenn in deinem Kopf der Film ganz anders läuft, an anderen Schauplätzen und mit anderen Dialogen. Die sich richtiger anfühlen. Richtiger als: dich jedes Wochenende in der einzigen Bar im Umkreis von zwanzig Kilometern zu besaufen und dann am Montag in der Schule von nichts anderem zu reden als davon, wie bedient du warst, mit wem du herumgemacht hast und wen du eigentlich gern flachgelegt hättest.
Wenn du viel lieber mit jemandem ans Meer fahren würdest, zum Tauchen vielleicht, um danach am Strand zu sitzen und nichts weiter zu tun, als den sich brechenden Wellen zuzuhören.
Wenn du an den meisten Tagen das Gefühl hast, aus der Zeit gefallen zu sein oder von einem anderen Planeten zu kommen und ein Gehirn zu besitzen, das in jeder Hinsicht anders programmiert ist als das derjenigen, die du kennst.
Erklär das mal jemandem: das Gefühl, ständig an deinem Leben vorbeizuleben, weil der Film einfach nicht stimmt. Das Gefühl, die meiste Zeit konturlos zu sein, wie Nebelschwaden. Oder Dunst.
Magda Woitzuck
Von einem Ende (Auszug, unveröffentlicht)
Ich nahm Elsa mit nach Graz zum Konzert eines Freundes, es war nichts großartiges, ein kleiner Gig vor ein paar Dutzend Leuten in einem dieser Kellerlokale. Ich musste sie mitnehmen, sie war überraschend eine Woche früher aus Hamburg gekommen als ich erwartet hatte. Wir waren an einem Punkt in unserer Beziehung angekommen, an dem man weiß, dass man irgendwann, vor gar nicht allzu langer Zeit, aber dennoch unwiderruflich den point of no return passiert hatte und es eigentlich ein langsames, leises Sterben war, welchem ich beiwohnen durfte, von dem sie aber – obwohl sie es irgendwo in ihren Eingeweiden arbeiten hörte – nichts wissen wollte.
Ich hatte sie ein paar Stunden zuvor vom Bahnhof abgeholt und war sehr spät dran gewesen. Sie hatte auf ihrem kleinen Köfferchen am Bahnsteig gesessen, in ihren langen, übergroßen, grauen Mantel gewickelt, den sie mit einem dazu passenden Gürtel knapp oberhalb der Taille mit einer Schleife zu schließen pflegte. Sie trug ihren komischen schwarzen Schlapphut, blätterte in einer dieser linken Kunstzeitschriften, die auf diesem grauen Papier gedruckt werden und zog ein langes Gesicht – das ganze Bild passte ausgezeichnet zum Wetter: ein grauer, bleierner Himmel der jeden Moment Regen versprach.
„Wo warst Du?“, sagte sie zur Begrüßung und es klang nur ein bisschen vorwurfsvoll. Sie war keine aufbrausende Natur.
„Stau“, log ich, „Stau überall.“
Dann nahm ich ihren Koffer, brachte sie zu meinem Auto, im Anschluss daran in meine Wohnung, wo ich sie, gleich nachdem die Tür hinter uns zugefallen war und sie sich den Hut mit einer langen, schweifenden Bewegung vom Kopf gezogen hatte, von hinten umarmte, sie geübt von ihren Kleidern befreite während ich sie zum Bett schob und sie dort vögelte, so wie man sich einen Keks aus einer Packung nimmt oder ein Buch aus dem Regal – ohne großartige Aufregung.
„Das war jetzt aber nicht die feine Art“, sagte sie in einem Tonfall, mit dem sie gleichzeitig keck, befriedigt und selbstbewusst wirken wollte, was ihr aber nicht gelang. Sie klang wie jemand, der etwas spürte, was er nicht akzeptieren wollte. Ich rollte mich von ihr, setzte mich mit dem Rücken zu ihr auf die Bettkante und steckte mir eine der lose herumliegenden Marlboros auf dem Nachtkästchen an.
„Hat dir doch gefallen“, sagte ich und blies Rauch aus.
„Ja“, sagte sie, „Das hat es wohl.“
Ich konnte spüren, wie sie sich einen der Polster hinter ihren Schultern zurechtstopfte, damit sie es bequemer hatte. Ich brauchte mich auch nicht umdrehen um zu wissen wie sie in jenem Moment aussah. Wir kannten uns zwar noch nicht lange, aber dafür hatte es gereicht.
„Wir fahren heute Abend nach Graz“, sagte ich.
„Okay“, sagte sie nur, „Okay. Wie du willst.“
Ich ging duschen.
Einige Stunden später setzten wir uns ins Auto und fuhren los. Es hatte immer wieder angefangen, aufgehört und wieder angefangen zu regnen, dazu kam diese feuchte Kälte, die die unangenehme Angewohnheit hatte, in die Glieder zu kriechen und sich dort wohnlich einzurichten. Ich war schweigsam an jenem Tag und sie war es auch, also ließen wir das Radio laufen, die Hitparade rauf und runter, ein öder Song nach dem anderen, sie konnte bei jedem mindestens zwei Zeilen mitsingen und den Rest der Melodie pfeifen. Sie war einfacher gestrickt, als sie es jemals erahnt hätte, und sie würde vermutlich nie wissen, wie einfach sie tatsächlich war – trotz der Mühe, die sie sich gab interessant und aufregend, gleichzeitig offen und zurückhaltend zu sein, trotz der auffälligen Kleidung, dem Hamburger Mundwerk und ihren eigenartig scharlachroten Haaren. Ich hatte das nicht nach und nach erfahren, ich hatte es gleich an dem Abend unseres Kennenlernens gewusst. Diese Einfachheit, die ihr innewohnte, die war es, die mich anzog, angezogen hatte. Die Fähigkeit, die einfachen Dinge zu erkennen und in dem ganzen Pfuhl der Nebensächlichkeiten die Wichtigen zu sehen – so etwas konnte sie gut.
(...)
Jörg Zemmler
Walter
(aus: Seiltänzer und Zaungäste, Klever, Wien, 2019)
Er war in den Bergen wandern gewesen. Berge, dachte er dabei, sind riesige, uralte, kaputte Gesteinsbrocken. Durch Erosion verformte, mit Spalten und Klüften übersäte Klötze. Er hatte darüber nachgedacht, ob Geologen vielleicht errechnen konnten, wie die Berge ursprünglich ausgesehen hatten. Natürlich wäre dabei die Frage gewesen, wo man den Zeitpunkt setzte, sozusagen den Wiederherstellungszeitpunkt wie beim Computer, bei Windows zumindest. Walter hätte es gefallen, wenn zumindest ein Berg einmal mit Beton zu seiner Urform aufgegossen würde und so ein rechteckiger Klotz daraus würde. Das wäre ein Spaß, einmal etwas anderes. Im Allgemeinen fehlte es dieser Zeit an Humor, fand Walter. Aber vielleicht war das jetzt nicht schlimmer als früher. Die Natur hatte keinen Humor. Meer, Ablagerungen, Korallenriffe, langsam, ungemein langsam bewegen sich die Erdplatten, schieben alles zusammen, alles wird hart, schieben es in die Höhe, und dabei wird alles kaputt. Und Gletscher drauf, oder Regen, Erdbeben, dann hat man den Salat, und jetzt gingen Leute wie er darauf spazieren und ergötzten sich an der Schönheit dieser Ruinen.
Walter hatte mit dem Fuß einen Stein von der Größe eines Pingpongballs weggeschossen. Der Stein war zwanzig Meter weit geflogen und in einer Wiese zum Liegen gekommen. Wie lang würde er jetzt dort liegen bleiben, hatte sich Walter gefragt und wie lange war er jetzt schon auf dem Weg gelegen, bis er von ihm in die Wiese geschossen wurde. Und wie war er zu diesem Stein geworden, diesem Stein in genau dieser Größe und mit dieser Form. Früher war er wohl Teil eines größeren Steins gewesen und noch früher Teil des Berges und noch früher, Jahrmillionen Jahre her, vielleicht Schlamm am Grund des Meeres. Und noch früher vielleicht Bestandteile eines Fisches, der dort rumgeschwommen war, als von Bergen überhaupt noch keine Rede sein konnte. Er hatte also vielleicht ein Stück zu Stein gewordenen Fisch in die Wiese geschossen.
Walter war kein Freund des Wanderns und auch nicht der Berge. Lieber war ihm die Stadt. Da bewegte sich etwas. Die Berge stünden nur reglos herum und da gebe es nichts zu sehen, sagte er immer. Nun aber, da ihm die Bewegung, die zwar unendlich langsame, vom Meer zum Zweitausender, bewusst geworden war, war es besser. Und lange nachdem der Fisch gestorben war, hatten Saurier die Erde bevölkert, riesengroß, und waren vielleicht auch genau dort unterwegs gewesen, wo er sich jetzt befand. Toll eigentlich, so gesehen, dachte er sich.
Dieses Projekt wurde gefördert durch ein KEP-Arbeitsstipendium des Landes Salzburg